Am 31. Oktober 1517 nagelte Martin Luther seine Thesen zur Erneuerung der Kirche an die Schlosskirche zu Wittenberg. Ob das wirklich so war, ist eher umstritten. Fakt ist aber: In diesem Jahr wird 500 Jahre Protestantismus weltweit gefeiert. So auch im Berliner Martin Gropius Bau. Der Luthereffekt. Aber gleich eine ganze Ausstellung darüber machen? Was wird hier präsentiert?
Der Luthereffekt – Ein Anstoß?
Über die ganze Entwicklung zu berichten, würde wohl mit einer Ausstellung ganze Gebäude füllen. „Die Schwierigkeit lag in der Bescheidung und Beschneidung einzelner Themen“, so die Kuratorin Anne-Katrin Ziesak. „Wir machen die Entwicklung des Protestantismus fest an vier Länderkapiteln, nämlich dem Schwedischen Reich der frühen Neuzeit, das für uns auch für das Modell der Staatskirche steht. An den Vereinigten Staaten von Amerika in ihrer Entstehungszeit. An Korea und Tansania als Beispiele für das 20. und 21. Jahrhundert.“ Auch wenn die Ausstellung „Der Luthereffekt“ heißt, so ist auch der Zusatz „500 Jahre Protestantismus in der Welt“ nicht zu vergessen. Die Kuratorin erklärt, dass nicht alles letztliche auf Martin Luther zurückzuführen sei. Mit Effekten sei es vielmehr so, dass man sie nicht beherrschen kann, sie machen sich selbstständig und entwickeln sich weiter. „Neben Luther gibt es andere Reformatoren, andere Reformationen, die weltweit sehr viel wirksamer geworden sind als die Wittenberger Reformation“, so Ziesak weiter.
Der Besucher wird von einer Installation des Berliner Künstlers Hans Peter Kuhn begrüßt. Die Installation ist eine riesige, schwebende Konstruktion aus Aluminiumstangen, Holz, Glas und Stahl, die an eine Doppelhelix erinnern. Durchläuft man diese, werden nicht nur Klänge aus dem kirchlichen Reich hörbar, sondern vielmehr wird ein Übergang von einer Begrenzung oben zu einer Begrenzung von den Seiten spürbar. Es galt der Gedanke, dass der Katholizismus den Menschen in der Horizontalen einen Raum für Sünden gibt. Gleichzeitig reguliere er aber auch nach oben hin den Zugang zu Gott. Der Protestantismus befreite den vertikalen Weg, setzte dennoch Grenzen im irdischen Leben den Menschen. Auf dem Weg durch die Installation erlebt man eine faszinierende, beklemmende Umsetzung von Katholizismus und Protestantismus. Sie stellt einen Übergang vom direkten Zugang zu Gott mit einem Raum für Sünden dar. Ist es eine religionskritische Pointe, dass die Grenzen in beiden Fällen Gitterstäbe sind und somit etwas Freiheitsberaubendes haben? Die Installation ist exklusiv für die Ausstellung entstanden und macht die Folgen der Reformation fühlbar.
Reformation als Konfliktpotential
Fließend von der Installation geht man in den Bereich „Reformationen“ über. Es ist im Gang um den Lichthof, durchmisst die verschiedenen Ausprägungen des Protestantismus und macht noch einmal deutlich, wie wenig die Ausstellung an der Person Martin Luther liegt. Denn die Ausstellung verdeutlicht, dass es nicht den einen Protestantismus gibt, sondern viele Formen, die auch von den unterschiedlichen Kulturen geformt wurden. Die Entwicklung ist bis heute nicht abgeschlossen. Der „Luthereffekt“ verdeutlicht auch, welchen Konfliktpotential der Protestantismus eigentlich birgt. Exemplarisch wird dies neben Deutschland an Schweden, Korea, Tansania und den USA gezeigt, denn in diesen Ländern zeigte der Protestantismus ganz unterschiedlich ausgeprägte Formen. Gemälde wie „Martin Luther im Kreise der Reformatoren“ zeigen die innere Vielfalt des Phänomens mit den unterschiedlichen Ausprägungen weltweit: Rechts von Luther sitzt sein engster Mitstreiter Melanchthon, auf seiner linken sitzt Calvin. Auch die beiden Reformatoren Wyclif und Hus sitzen mit am Tisch. Das Gemälde appellierte aus damaliger Sicht an die Harmonie der Reformationskirchen. Heute macht es deutlich, wie wenig man von dem „einen“ Protestantismus reden kann. Mit Vitrinen und Tafeln in der erstaunlich düster gehaltenen Ausstellung wird an die Anglikaner, an die Reformierten, die Täufer und andere Schulen der neuen Konfession erinnert.
Boomland des Protestantismus
In den Bereichen um die Entwicklung des Protestantismus in Schweden, Tansania, Korea und den USA geht es mehr als nur um bloße Religionsgeschichte. Hier werden die Berührungspunkte mit dem Prozess der europäischen Expansion und vor allem mit der Kulturgeschichte sichtbar. Bei der Verbreitung der reformatorischen Lehren spielten vor allem Kaufleute eine wichtige Rolle. So kam Carl Holgersson Gera aus Stockholm nach Wittenberg, kaufte 1554 ein Exemplar der „Loci Communes“ von Melanchthon. Gera nahm das Buch mit in seine Heimat, tauschte sich mit schwedischen Reformatoren darüber aus und machte die Schrift schließlich in Finnland und Estland bekannt. Jetzt ist das Buch in der Ausstellung „Der Luthereffekt“ zu bestaunen. Eine Grafik unterstreicht zudem seine abenteuerliche Reise. In den Räumen hängen Schautafeln, auf denen Menschen aus den jeweiligen Ländern projiziert werden. Sie sprechen über ihr Verhältnis zur Religion. Daneben sind Plakate an den Wänden, die „fun facts“ geben und zum Beispiel darüber informieren, dass in Deutschland nur noch 16% der Protestanten regelmäßig in die Kirche gehen. In Südkorea sind es hingegen über 80%. Gezeigt werden alte, originale Bücher, historische Stiche und Zeichnungen biblischer Motive. In den Schweden-Räumen sind zusätzlich noch die Rüstungen und Waagen. Das Gezeigte steht Seite an Seite mit den neuen Einblicken in die religiöse Praxis unserer Zeit.
So ist ein Saal den Protestanten gewidmet, die die Reformation über den Atlantik in die USA gebracht haben. So wie William Penn, der den Staat Pennsylvania gegründet hat. Selbst Asien wurde in den letzten 500 Jahren von der Reformation erreicht. In Südkorea löste die Botschaft der Reformation erst vor 60 Jahren einen Boom aus. In Asien sind circa 20% der Einwohner Protestanten. Die Landeskirche ist sehr aktiv im Wiedervereinigungsprozess, was von der südkoreanischen Regierung jedoch nicht gerne gesehen wird. So ist im Japan-Raum eine Installation zu sehen, die Bittschriften für einen inhaftierten, presbyterianischen Pfarrer zeigt. Dieser hat sich mit nordkoreanischen Glaubensbrüdern getroffen – was verboten ist.
Einen anderen Raum hat Carsten Hein gestaltet. Der Fotograf ist einen Monat lang mit einem evangelisch-lutherischen Pfarrer durch Tansania gereist. Die gezeigten Bilder sind bei einem Exorzismusritual entstanden. „Was man in Tansania sehr oft hört, ist, dass sie der festen Meinung sind, dass sie die Zukunft der Kirche darstellen. Viele von denen, die ich dort getroffen habe, waren längere Zeit auch in Deutschland und sagen ‚Ihr habt euren Glauben längst verloren. Hier bröckelt alles auseinander, das was mir machen, ist die Zukunft.“, erklärt Hein.
Fazit
In der Ausstellung ist von Luther wenig zu sehen. Grund ist, dass die Lutheraner global gesehen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Ausstellung lohnt sich definitiv nicht nur für religiös interessierte Besucher. Beim Gang durch die Räume wird immer wieder deutlich, wie massiv die Protestanten in traditionelle, indigene Kulturformen eingriffen. In Schweden waren die Sámi die Leidtragenden, denn durch den Zwang zum regelmäßigen Kirchgang mussten sie ihre nomadische Lebensweise aufgeben. Ahnenkult und Trommelrituale wurden verboten. Wie bunt die protestantische Welt von Anfang an war, zeigen Gemälde, Briefe von Missionaren und religiöse Alltagsgegenstände. Auch Gospel der Schwarzen sind zu hören, die ihre eigenen Gemeinschaften gründeten. Die Ausstellung wagt den Sprung in die Gegenwart und stellt mit Südkorea und Tansania auch zwei heute boomende protestantisch geprägte Länder vor. Mit Filmausschnitten und einer eigens für den „Luthereffekt“ in Auftrag gegebenen Fotoreportage zeigt die Ausstellung, was vielen Europäern fremd geworden ist: Wie lebendig der Glaube an Christus für Menschen in Afrika ist und wie selbstverständlich er den Alltag prägt – Teufelsaustreibungen inklusive. So macht die Ausstellung in allen Teilen deutlich, dass Religion Chance und Abgrund zugleich sein kann. Sie half und hilft vielerorts mit bei der gesellschaftlichen und individuellen Emanzipation, sie ließ und lässt sich aber auch missbrauchen für politische Zwecke, für Zwang und Gewalt. Denn auch das macht die Schau deutlich: Wo Menschen etwas heilig ist, sind sie verletzlich und manipulierbar. Dies zu erkennen, geht weit über die Geschichte des Protestantismus und des Christentums hinaus und macht den „Luthereffekt“ zu einer Ausstellung, die sich nicht nur für religiös interessierte Besucher lohnt. Umfangreiche Vermittlungsangebote sowie ein attraktives Rahmenprogramm ergänzen die Ausstellung. Begleitend erscheint ein reich illustrierter Katalog.
Weitere Bilder der Ausstellungen gibt es bei Instagram unter den Hashtags #luthereffekt und #iwlutherberlin.
Infobox
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Öffnungszeiten: Mittwoch bis Montag 10-19h, dienstags geschlossen
Bildquelle: Marisa Schiele