Im Berliner Martin-Gropius-Bau gibt es nun eine Museumsführung der ganz besonderen Art, denn in der „Symphony of a Missing Room“ nimmt das britisch-schwedische Künstlerpaar Christer Lundahl und Martina Seitl die Besucher auf eine ganz besondere Art an die Hand. Der 2009 konzipierte Rundgang ist nun in einer neuen Version zu erleben: Der Besucher sieht den Rundgang nicht, sondern nimmt nur akkustische Signale wahr. Lässt man sich auf dieses Erlebnis ein, erfährt man eine Museumsführung der ganz besonderen Art. Der Besucher setzt eine Brille auf, durch deren weiß getöntes Glas nichts mehr zu sehen ist. Lediglich die Helligkeit kann durch die Brille wahrgenommen werden. Als Wegweiser gilt der Kopfhörer, der keinen Widerspruch duldet. Und die Hand, von der die Stimme aus dem Kopfhörer spricht, ist Realität: Ergreift der Besucher sie, wird er zu einem Fahrstuhl gebracht.
Missing Room: Wanted!
Doch was genau ist der besagte verlorene Raum? Was befindet sich darin und vor allem: Wo ist er? Doch dies wird seitens des Künstlerpaares nicht beantwortet. Ihnen ist vielmehr wichtig, dass sich der Besucher den Raum selbst vorstellt, ganz auf den Grundlagen der Informationen, die gegeben werden. Das Konzept des Missing Room haben die beiden bereits 2009 entworfen und schon sämtliche Museen auf der ganzen Welt damit unterstützt. Bei dem Rundgang wird immer auf parallel laufende Ausstellungen verwiesen. In Berlin geht es um die Geschichte des Gebäudes, denn der Martin-Gropius-Bau steht gleich neben den Grundmauern des ehemaligen Hauptquartiers der Gestapo. Allerdings bleibt unklar, ob der Missing Room im Museum oder in einem Gefängnis stattfindet, denn beides ist hier denkbar. Unterstützt wird die Geschichte des Gebäudes von einer Kopfhörerstimme, die an Käthe Niederkirchner erinnert. Sie war eine kommunistiche Widerstandskämpferin, die 1944 von der SS erschossen wurde. Man begegnet also einer Frau, doch über ihre Geschichte wird wenig mitgeteilt. Zunächst wirkt es wie ein Schwachpunkt der Inszenierung, aber der Rundgang soll keine historischen Fakten vermitteln, sondern nur die Illusion einer Reise durch Raum und Zeit. Das Künstlerpaar inszeniert so perfekt genau die zwei menschlichen Bedürfnisse, die einander so widersprechen: Auf der einen Seite will man Sicherheit, andererseits will man Abenteuer erleben und neue Welten entdecken.
Die Stimme erklärt, dass man nun einen engen Tunnel durchqueren muss. Die Hand, die einen führt, bewegt sich daraufhin nach unten. Der Besucher bückt sich automatisch, um sie nicht zu verlieren. Man hat mitunter Erinnerungen, die sich wie enge Räume anfühlen. Und genau diese Erinnerungen kommen automatisch hoch, wenn man gebückt gehen muss. Auf einmal wirkt alles eng, fast unbequem. In der Neurologie ist das eine multisensorische Erfahrung. Sobald man diese hat, ist man wirklich davon überzeugt, in einem engen Raum zu sein. Die Reaktion darauf kann sein, dass man während des Rundgangs im Missing Room meint, einen muffigen Geruch wahrgenommen zu haben, weil man dachte, in einem Keller zu sein. Was man hierbei spürt, hängt nicht von den realen räumlichen Gegebenheiten ab, sondern von den ganz persönlichen Erinnerungen, die durch eine körperliche Erfahrung wieder präsent sind. Doch der Besucher wird nicht die ganze Zeit an der Hand geführt, er darf auch selbständig laufen. Man lässt sich automatisch von seinem Gefühl leiten, nimmt plötzlich Dinge wahr, die sonst zu selbstverständlich sind. Der Boden vibriert, wenn andere Besucher an einem vorbeilaufen, ansonsten wird die Raumwahrnehmung durch den Klang im Kopfhörer bestimmt. Die eigene Illusion scheint perfekt. Selbst als die Stimme behauptet, man sei durch eine Wand gelaufen und befände sich nun außerhalb des Gebäudes – auch dann liefert die Fantasie die entsprechenden Bilder.
Ohne eigene Fanstasie im Missing Room?
Kunstwerke provozieren bestimmte Gefühle, Kunst soll aufrütteln und Menschen aus ihrer täglichen Routine herausreißen. Dieser Rundgang funktioniert nur, wenn die Teilnehmer sich darauf einlassen und mitmachen. Wer innerlich auf Distanz bleibt, erlebt hierbei Nichts. Man muss dem Kunstwerk vertrauen. Das ist die Quintessenz der britisch-schwedischen Arbeit. „Symphony of a Missing Room“ ist ein Kunstwerk, dem man sich guten Gewissens ausliefern kann. Man wird nicht in Gefahr gebracht, erlebt nichts Schockierendes und muss am Ende auch nichts kaufen. Doch eines macht der 30-minütige Rundgang klar: Es werden keine 3D-Videos benötigt, um durch fremde Welten zu wandern. Die lebendigsten Bilder produziert immernoch die eigene Fantasie.
Infobox:
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
Ausstellungszeitraum: 27.10. bis 20.11.2016
Öffnungszeiten: MO, MI, DO & FR 12:00-18:15 Uhr; SA & SO 11:15-18:15 Uhr
Bildquelle: José Gracia (Pixabay)