„Auf die nackte Leinwand ein ganzes Universum.“, so beschreibt Uwe Goldenstein im Jahre 2016 Miriam Vlamings Arbeit in seinem gleichnamigen Artikel. Fortlaufend entwickelt sich Miriam Vlaming zu einer visuellen Anthropologin, indem sie die Symbiose des Menschen mit der Natur zum Thema ihrer Werke erhebt. Dabei geht es ihr nicht allein um das Verhältnis des Menschen und seinem natürlichen, urbanen Lebensraum, sondern fernerhin um die menschliche Natur selbst, die sie in ihren großflächigen Werken erforscht. Dabei lotet die Malerin die Aspekte der Domestizierung der Natur von Seiten des Menschen aus, die mit den Glaubenssätzen und Werten kontrastieren, die den Menschen so einzigartig charakterisieren. Kennzeichnend für ihre Werke steht dabei die Verschmelzung ihrer Leinwandprotagonisten mit der sie umgebenden floralen Ornamentik.
Vlaming scheint allzu perfekte Oberflächen zu zerstören
Während des künstlerischen Prozesses schafft Vlaming zwei malerische Ebenen, die sich fortlaufend einander annähern, um schließlich zu einem neuen, eigenen Bildraum zu erwachsen. Die Künstlerin gestaltet zunächst einen abstrakten Malgrund, auf dem im Laufe des Schaffensprozesses allmählich figürliche Strukturen und Narrative offenbar werden. Vlamings Werke sind geprägt von einer Tiefenwirkung, die sie durch die stetige Überarbeitung der Leinwand erreicht. Durch das Abwaschen und Wiederauftragen von Eitempera, die die Künstlerin selbst herstellt, entstehen Farbinseln, die den Blick auf tiefere Schichten und narrative Ebenen im Bild freilegen. So gelingt es der Künstlerin, den Betrachter in ihre bildlichen Strukturen eintauchen zu lassen und einen Raum für Assoziationen zu schaffen. Es sind gerade jene Leerstellen, Brüche und Widersprüche, die das Publikum in ihre Bilder hineinziehen und individuelle Erzählungen hervorbringen. Vlaming öffnet mit ihrer Malerei die Tür zu einer Welt, die gleichsam entrückt wie auch nahbar für den Betrachter zu sein scheint. In ihrer malerischen Tradition stellt Vlaming als visuelle Anthropologin keineswegs einen akademischen Anspruch an jene Forschung, viel mehr liegt der Reiz ihrer Arbeit in der Fähigkeit, sozio-kulturelle und psychologische Dimensionen des Menschen spielerisch aufzuzeigen.
Mit ihrer aktuellen Arbeit Treasure World geht Miriam Vlaming bis ans Äußerste der Überarbeitung der Leinwand. Im Jahre 2001 schuf sie nach einem Afrikaaufenthalt die Darstellung einer anmutenden Mutterfigur, die sie nie vollendete. Sechzehn Jahre später greift die Künstlerin die malerischen Strukturen auf, überarbeitet sie aber nicht gänzlich, sondern kreiert durch die Verbindung der beiden Ebenen eine neue Bildikonographie. Dem Betrachter mit dem Rücken zugewandt, steht eine zierliche, dennoch gleichermaßen würdevolle junge Frau, den Blick auf die sich ihr offenbarende Landschaft richtend. Die sie umgebenden überlagerten Farbschichten bilden ein Netz aus malerischen Strukturen, das Freiraum für Assoziationen und Narrative lässt.
In ihrer aktuellen Ausstellung Treasure World, die im Rahmen des Frankfurter Kunstsommers am 23.06.2017 in der Galerie Tristan Lorenz eröffnete, präsentiert Miriam Vlaming eine Auswahl aktueller und älterer Werke, die im Rahmen der Ausstellung in einen neuen Bezug zueinander gesetzt werden. Im Jahre 2016 schuf Miriam Vlaming mit ihrer großen Einzelausstellung EDEN eine Hommage an das blühende Leben. Nun setzt sie diese Thematik mit Treasure World in Bezug zu der menschlichen Endlichkeit und all den Ebenen, die sich zwischen den zwei Polaritäten von Leben und Tod bewegen.
Figuren wie aus Märchen, Mythen, Ritualen und Spielen
Vlamings Figuren erinnern an vertraute Narrative, sind Archetypen oder Märchenfiguren wie in ihren ersten Werken, in denen die Künstlerin die Figur der Alice ihre Leinwände erkunden ließ. Mit jedem neuen Bild schafft sie neue Individuen, die den Raum um sich herum gestalten und sich zwischen dem Prozess der Individualisierung und der Zugehörigkeit einer Gruppe sowie ihrer Beziehung zu ihrer naturellen oder urbanen Umgebung bewegen. Vlaming erforscht in ihrer großflächigen Malerei die verborgenen Schätze, Rätsel und existenziellen Fragen des menschlichen Daseins, wobei sie sich stets neuer Bildprotagonist*innen bedient. Demzufolge liegt jedem ihrer Werke ein eigener und stetig neuer Blickwinkel zugrunde. Ihre Figuren erinnern an Personen aus Schwarz-Weiß-Fotografien, verkörpern Vergänglichkeit und werden von der Malerei in aktuelle Kontexte versetzt. Wie die Künstlerin selbst sagt: „Sie wecken Assoziationen und könnten Fragmente aus einer fiktiven Sage sein“ Miriam Vlaming überführt in ihren malerischen Positionen die Gegenwart in die Geschichte ebenso wie die Geschichte in die Gegenwart und schafft somit stets neue Bilder der Erinnerung.
Aufrecht steht der Zirkusdompteur im Zentrum Vlamings Werkes One and Only, während sich seine Umwelt in malerischen Strukturen und einzelnen Farbinseln verliert. Um ihn herum erscheinen zarte Kreise in der Farbfläche, die beim Betrachter Assoziationen an Weltkugeln erwecken. Wie so oft in Vlamings Bildern tritt der Dompteur in fotografischer Erscheinung zu Tage während seine abstrakte malerische Umgebung ihn in einen der Realität entrückten Raum versetzt. One and Only steht für die Selbstfindung und Kreation der Umwelt, die Suche nach Sehnsuchtsorten und dem Unerforschten und ist folglich ein zentrales Werk der Ausstellung, die eben jene Sehnsuchtsorte und Selbstdefinierung zwischen Lebensblüte und Endlichkeit des Menschen erforscht.
Die Einsamkeit und Selbstsuche kontrastiert und verwebt Miriam Vlaming in ihrer aktuellen Einzelausstellung zugleich mit dem im Jahre 2014 entstandenen Bild Homeparty, das in seiner Farbpracht und Formenvielfalt die Lebensfreude versinnbildlicht. Gleichmäßig ausbalanciert in der Bildfläche präsentieren sich dem Betrachter zwei Tanzpaare wobei eines der beiden Paare den direkten Blickkontakt mit dem Betrachter aufnimmt und ihn einlädt, Teil des Bildgeschehens zu werden. Weiter im Hintergrund schaut eine junge Frau über die Schulter ihres Partners, der dem Betrachter mit dem Rücken zugewandt ist. Als Pendant zu One and Only kreiert Vlaming erneut Figuren, die einer Schwarzweißfotografie entsprungen zu sein scheinen, und verflechtet sie mit einer Raum und Zeit enthobenen abstrakten Umgebung, die in kreidiger Farbe die Figuren überlagert, um eins mit ihnen zu werden. Eine Fülle an Farben und Kontrasten sowie die reiche Formenvielfalt des Gemäldes transportieren eine Blüte und Pracht, die das Gefühl der Lebensfreude beim Betrachter hervorruft. Das „Spektakel Leben“ wird in Homeparty unvergleichlich sichtbar. Mit der Gegenüberstellung der beiden Werke führt Vlaming vor Augen, dass die Suche nach den Schätzen der Welt sich schließlich stets zwischen den Polaritäten der Freude und Geselligkeit, der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der Individualisierung und dem gegenteiligen Bewusstsein der eigenen Endlichkeit stattfindet. Dem zentralen Sujet der Menschwerdung wird somit durch Treasure World eine tiefere, beinahe psychologische Dimension zuteil.
Vlamings neue Malereien widmen sich der Thematik des Umgangs mit der eigenen Endlichkeit. Die Künstlerin schreibt in diesem Zusammenhang neue kulturelle Facetten in ihr Werk ein, indem sie Totenkulte thematisiert. Dabei bedient sie sich der Ikonographie des Pierrot sowie der Catrina, einer mexikanischen Totentänzerin. Während der Pierrot in seiner Mimik und Beschaffenheit an die Widersprüchlichkeit des Lebens erinnert, indem sich gleichermaßen die Lebensfreude ebenso wie der Ausdruck von Trauer in seine Mimik einschreibt, so thematisiert La Catrina neue kulturelle Facetten in Form des Totentanzes. Die Figur der La Catrina führt uns die Vergänglichkeit und Einzigartigkeit des Momentes vor Augen. Die Verkleidung gilt stets als Versuch, den Tod wieder ins Leben einzuschreiben. Mit ihren neuen Werken sorgt Miriam Vlaming für kulturelle Grenzverschiebungen und eröffnet neue Bildsujets, die Totenkulte und Vergänglichkeit behandeln.
Miriam Vlaming: bedeutende Vertreterin der Neuen Leipziger Schule
Miriam Vlaming, 1971 geboren, studierte an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Arno Rink und Neo Rauch und schloss ihr Studium als Meisterschülerin Rinks ab. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Berlin. Im Kerber-Verlag erscheint im Juli 2017 ein neuer Katalog „Human Nature“. Darüber hinaus bildet der DuMont ART-Kalender 2018 auf der Titelseite ein Motiv ihrer Malerei ab. Ferner wird über Miriam Vlamings Werk im aktuellen Artikel der Zeitschrift Zeitkunst „Stolze Sammlung Museumswürdiger Kunst. Der Kunstsammler Thomas Rick legt den Schwerpunkt auf zeitgenössische Arbeiten“ berichtet.
Infobox
Galerie Tristan Lorenz
Fahrgasse 17
60311 Frankfurt am Main
Dies ist ein Gastbeitrag von Anne Diestelkamp. Sie studiert an der Humboldt-Universität zu Berlin die Fächer Kunst- und Bildgeschichte (B.A.) sowie Anglistik (B.A.) und arbeitet seit Dezember 2016 in Miriam Vlamings Atelier.
Bildquelle: Miriam Vlaming